Der erste Renault Twingo ist Kult, keine Frage. Doch der kleine Franzose fällt nicht nur durch seine Kulleraugen und das putzige Schnäuzchen auf. Er trödelt an der Ampel, flegelt auf zwei Parklücken oder eiert im Slalom über die Straße. Der Twingo selbst kann dafür natürlich nichts. Die typische Twingo-Fahrerin dafür umso mehr.

Erschöpft sackt Silvia Blattert-Heuburger in ihren weinroten Renault Twingo. Endlich Feierabend. Sie startet den Vierzylinder und bugsiert den kleinen Franzosen auf die Straße. Am Rückspiegel baumelt ein Omm-Zeichen aus Messing. Ein Tongefäß, am Lüftungsgitter festgeklemmt, versprüht einen beißenden Sandelholzduft. Blattert-Heuburger will zu einem Workshop, um ihre innere Mitte wiederzufinden.

Die 49-jährige biegt in ein Parkhaus in der Freiburger Innenstadt, steuert den Renault Twingo durch die S-Kurve der Einfahrt und zeichnet mit der lackierten Heckstoßstange einen feinen, blutroten Strich entlang der Parkhauswand. Auf winzigen Reifen stottert der Twingo durchs Parkhaus. Blattert-Neuburger entdeckt eine Lücke, holt weit aus und kurbelt an dem wulstigen Plastiklenkrad, als manövriere sie einen Zwölftonner durch eine Altstadtgasse.

Sie schiebt ihr Kinn nach vorne, um das Ende des Motorhaubenstummels besser abschätzen zu können. Die Kupplung stinkt, das Getriebe wimmert. Nach viermaligem Vor- und Zurücksetzen und 16 Lenkradeinschlägen bis zum Achsmanschettenexitus steht der Renault diagonal in einer drei Meter breiten Parklücke. Blattert-Heuburger wischt die strähnigen Haare hinters Ohr, drückt die Tür auf und schlägt sie dem Nachbarauto gekonnt in die Seitenleiste.

„Ich bin doch kein Flittchen“

Silvia Blattert-Heuburger unterrichtet an einer Waldorfschule. Für die Liebe ist sie nach Freiburg gekommen, nach der Scheidung ist sie geblieben. An den Ohren baumeln schmale Holzmasken, die sich unter dem unfrisierten, aschblonden Haar verstecken. Feine Falten umspannen die blutleeren Lippen. Make-up nutzt sie nicht. „Das habe ich nun wirklich nicht nötig. Ich bin doch kein Flittchen.“ Ihre Stimme klingt bitter. Sie trägt eine weit ausgeschnittene, hellbraune Leinenbluse. Über den Schultern schlabbern die Träger eines naturweißen Fair-Trade-BHs ohne jede Stützfunktion. Sie interessiert sich nicht für Äußerlichkeiten. Wichtig sind die inneren Werte. Und die Mitte.

Die Sozialpädagogin hastet aus dem Parkhaus quer über die Straße und reißt die Glastür des Workshop-Studios auf. Sie streift die Leinenlatschen von den Füßen und setzt sich auf einen Schemel. Lieblos knotet sie das Tuch, das ihre Djembé hält, um die Hüfte und beginnt, auf das Ziegenfell der afrikanischen Trommel einzuschlagen. Sie schließt die Augen, wiegt ihren Kopf, dass die Holzmasken im Rhythmus tanzen. Sie trommelt sich in Trance. Nach einer Stunde ist ihr Kopf heiß und der Magen flau. Da ist sie, die Mitte.

Warum der Twingo gerne in der Mitte fährt

Der Trommellehrer drückt ihr ein kleines, flaches Kästchen in die Hand. „Für unterwegs, wenn du dich sammeln willst.“ Sie bedankt sich und lässt das Kästchen in ihren Jutebeutel fallen. Dann schwebt Blattert-Heuburger zurück zum Parkhaus. Sie gleitet in ihren Twingo, erweckt die 58 Pferdchen zum Leben, indem sie sanft den Zündschlüssel dreht, und steuert den Kleinstwagen so sicher durch die Ausfahrt, als wäre er ein Dodge RAM.

Mit Tempo 35 rollt sie durch die anbrechende Nacht und stoppt an einer roten Ampel. Abwesend zwirbelt sie eine Haarsträhne zwischen zwei Fingern. Die Ampel leuchtet grün. Blattert-Heuburger träumt. Der Hintermann hupt. Im Rückspiegel erkennt sie, wie er fluchend die Hände nach oben reißt. Blattert-Heuburger lächelt, greift in ihren Jutebeutel, öffnet das Kästchen und legt die Kassette ein.

Orgiastische Djembéklänge explodieren entlang des Twingo-Himmels. Sie rollt die Schwarzwaldstraße stadtauswärts und achtet auf gleichmäßigen Atem. Der Renault Twingo murmelt zufrieden vor sich hin und nimmt die Leitlinie zwischen die Räderchen. Auch er hat seine Mitte gefunden.


Der Renault Twingo ist unser siebter Text in der mehrteiligen Reihe „Wer fährt eigentlich…?“

Welche Menschen fahren welches Auto? Und warum? Weil die Wahl des eigenen Autos von Beruf, Lebensabschnitt und dem eigenen Selbstbild abhängt. Wir alle passen in dieses Muster. Ich habe den Alltag auf deutschen Straßen beobachtet und porträtiere Menschen in und mit ihrem Fahrzeug – mal zugespitzt, mal melancholisch, aber immer mit einem Augenzwinkern.

Lest auch Teil 6 und Teil 8: Wer fährt eigentlich VW Phaeton und… wer auf den Kiesplatz?


Illustration: © Cliv

 

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